Zwei Strömungen – eine Triebkraft
Die Reformation vollzog sich in zwei Strömungen, die im Grundsätzlichen übereinstimmen, sich in Details aber unterschiedlich artikulieren: die eine fußt auf Luther, ihre Anhänger sind die Lutheraner, die andere auf Zwingli und Calvin, ihre Anhänger werden als Reformierte (auch Presbyterianer, Kongregationalisten, Puritaner) bezeichnet. Beide Glaubensrichtungen sind unter dem Begriff Protestantismus zusammengefasst.
Der Protestantismus
Die Bezeugung des evangelischen Glaubens
Als Protestantismus bezeichnet man die aus der Reformation hervorgegangene evangelische Glaubensbewegung sowohl lutherischer als auch reformierter Prägung. Zurückzuführen ist dieser Begriff auf den 2. Reichstag zu Speyer im Jahr 1529. Dort versuchten die katholischen Reichsstände, die auf dem 1. Reichstag 1526 erfolgte Öffnung gegenüber den evangelischen Reichsständen (die Religionsfrage sei Gewissensfreiheit des Reichsfürsten) zurückzunehmen. Zugleich wollten sie das im Wormser Edikt von 1521 ausgesprochene Verbot, lutherische Schriften zu lesen und weiter zu verbreiten (Reichsacht über Luther!), verschärfen. In einer feierlichen „Protestation“ bezeugten – pro-testierten – die evangelischen Reichsstände unter der Führung Philipps I. von Hessen ihren evangelischen Glauben und erhoben Einspruch.
Der Begriff „Protestantismus“ für die evangelische Konfession hat sich jedoch erst im 17. Jahrhundert allgemein durchgesetzt. Die Anhänger der Reformation bezeichneten sich zunächst als „die Evangelischen“ – nach ihrem Glauben an das Evangelium. Nach diesem Verständnis ist die Bibel die einzige Quelle der Offenbarung (sola scriptura) und Jesus Christus allein unser Heil (solus Christus); allein aus Gnade ist der Mensch gerechtfertigt (sola gratia) und er erlangt allein aus Glauben seine Gerechtigkeit vor Gott (sola fide).
Bereits vor Luther und Zwingli gab es Versuche, die Kirche zu erneuern, u.a. durch Petrus Valdus (Waldes) im 12. Jh., John Wyclif im 14. Jh. und Jan Hus zu Anfang des 15. Jh., aber erst das 16. Jahrhundert wurde zum eigentlichen Zeitalter der Reformation.
Zwei Männer der bestehenden „einen heiligen katholischen Kirche“ entdeckten fast gleichzeitig an unterschiedlichen Orten das Evangelium neu und wurden damit zu Initiatoren der reformatorischen Bewegung: Martin Luther in Wittenberg und Ulrich Zwingli in Zürich. (Johannes Calvin aus Genf, der andere und prägendere „Vater“ reformierter Theologie, war ein Reformator der folgenden Generation.) Beide, Luther und Zwingli, wollten die Kirche ihrer Zeit erneuern, sie wieder zurückführen auf ihren Urgrund, die reine Verkündigung von Gottes Wort. Die Reaktion der Kirche war Verfolgung und Aussonderung. Den beiden Theologen blieb nichts anderes übrig, als ihr eigenes Kirchenwesen aufzubauen. Dass es kein gemeinsames wurde, obwohl doch der gleiche Geist sie trieb, war eine Tragik, deren Ursache wesentlich in der Biographie der beiden Reformatoren lag:
Luther war Mönch und sein Denken durch die mittelalterliche scholastische Theologie geprägt.
Zwingli dagegen war ein im Brennpunkt der Gesellschaft stehender Priester und vom Humanismus beeinflusst.
Luther saß in seiner Studierstube in Wittenberg, sah die Menschen erdrückt von Angst und Schuldgefühlen (Bußprediger Tetzel aus dem nahen Magdeburg!) und rang mit der Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Zwingli zog als Feldprediger in die Schlachten des beginnenden 16. Jahrhunderts, sah seine Landsleute in gegeneinanderstehenden Armeen verbluten, sah das Elend der Menschen und rang mit der Frage: Wie finden wir zu einer Gesellschaft, in der im Wissen um die Vergebung menschlich miteinander umgegangen wird?
Luther erkannte den Auftrag, den Gott zu verkündigen, der den Menschen rechtfertigt allein aus Gnaden. Zwingli erkannte das Gebot, sich − über diese Verkündigung hinaus − Gott zur Ehre für eine gerechtere Gesellschaft einzusetzen.
Luther lebte in einem hierarchisch gegliederten Fürstenstaat, übernahm dieses Modell für die Struktur seiner Kirche (bischöflich) und begründete das theologisch mit dem biblischen Gemeindebild von Hirt und Herde. Zwingli dagegen lebte in einem republikanischen Stadtstaat mit einem gewählten Rat. Dies wurde ihm zum Vorbild für den Aufbau seines Kirchenwesens (presbyterial), und er begründete es theologisch folgerichtig mit dem biblischen Bild vom Leib Christi, in dem jedes Glied gleich wichtig und Christus das Haupt ist.
Im Religionsgespräch von Marburg 1529 haben Luther und Zwingli den Versuch unternommen, beide reformatorischen Bewegungen zu vereinen. Fast wäre es gelungen, aber es scheiterte an den unterschiedlichen Auffassungen vom Abendmahl. Für Luther waren Brot und Wein wirklich (“est” = ist) Leib und Blut Christi, Zwingli sah in ihnen nur ein Zeichen (“significat” = bedeutet).
Fortsetzung des reformierten Protestantismus durch Calvin
Nach Zwinglis Tod war es vor allem der in Genf wirkende Johannes Calvin, der den reformierten Protestantismus als Lehre befestigte und konsequent weiterführte. Ebenso wie Zwingli in Zürich organisierte Calvin in Genf eine neue, auf demokratischer Struktur basierende Kirchenordnung, wonach die Leitung der Gemeinde in den Händen der Pfarrer und Presbyter liegt. Ebenso wie Zwingli sah auch er im Christsein einen gesellschaftlichen Auftrag. Der geschichtlichen Entwicklung Rechnung tragend, bestand seine Auseinandersetzung mit den Zeitereignissen jedoch vor allem darin, auf die fortschreitende Verweltlichung des gesamten Lebens, die in Frankreich im ausgehenden 16. Jh. besonders deutlich zutage trat, zu reagieren und die gesellschaftlichen Missstände anzuprangern. Calvin übernahm nach Luthers Tod (1546) dessen Rolle als Sprecher aller „Evangelischen“.
Die Ausbreitung der Lehren Luthers und Calvins
Lutheraner und Reformierte sind in den folgenden Jahrhunderten getrennte Wege gegangen, im realen wie im übertragenen Sinn. Während sich die lutherische Reformation bald außerhalb Deutschlands in Skandinavien und im Baltikum ausbreitete, fassten die Reformierten außerhalb der Schweiz vor allem in Westeuropa (Niederlande, Frankreich, Schottland) und in Nordamerika Fuß. In Deutschland wechselten zunächst die Konfessionen je nach dem Glauben ihrer Landesfürsten, jedoch waren es vor allem west- und nordwestdeutsche Gebiete, in denen sich zunehmend reformiertes Glaubensverständnis etablierte.
Von gegenseitiger Intoleranz zu gegenseitiger Akzeptanz
Für die weitere Entwicklung einschneidender als die unterschiedlichen geographischen Wege aber war, dass sich zwischen den Glaubenspositionen ein unüberwindlicher Graben auftat, der so tief war, dass sich Lutheraner und Reformierte lange nicht tolerieren konnten. Im Lauf der Geschichte gab es Perioden (16./17.Jh.), in denen sich beide offen befeindeten, manchmal floss sogar Blut. Prominentestes Opfer in Sachsen war der des Calvinismus verdächtigte Kanzler Nikolaus Krell , der 1601 auf dem Neumarkt in Dresden hingerichtet wurde.
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Ein Sympathisant des Calvinismus am Hebel der Macht in Sachsen
Am Beispiel Nikolaus Krells lässt sich nachvollziehen, wie hart im Zeitalter der Reformation auch innerhalb protestantischer Konfessionen um Einfluss und Macht gekämpft wurde. Krell war ein Anhänger der calvinistisch – reformierten Glaubenslehre. Er hatte in der Regierungszeit Christian I. (sächsischer Kurfürst von 1586 bis 1591) als Geheimer Rat und – ab 1589 – als Kanzler führende Ämter mit weitreichenden Befugnissen inne. Diese 5 Jahre waren ein kurzes Intermezzo einer Öffnung gegenüber dem Calvinismus, davor und danach war das Land auf das orthodoxe Luthertum festgelegt.
Krell führte zahlreiche Reformen in der Innen-, Außen- und Kirchenpolitik durch, alle mit dem Ziel, die bisher tonangebenden staatlichen und kirchlichen Gremien in ihrer politischen Macht einzuschränken und die absolutistische Stellung des Kurfürsten zu stärken:
- Er vereinigte den Geheimen Rat (oberste Landesverwaltungsbehörde) mit den Hofräten und übernahm als Kanzler deren Führung.
- Er degradierte das Oberkonsistorium in Dresden, die zentrale, einflussreiche Stelle der lutherischen Kirchenverwaltung, die erst 1580 aus dem Meißner Konsistorium hervorgegangen war, wieder zum Konsistorium und verlagerte es nach Meißen zurück.
- Er lockerte die Bindung zu den Habsburgern.
- Er verbreitete die calvinistische Lehre (neues Gesangbuch, neues Gebetbuch, neuer Katechismus) und unterlief somit das bis dahin für alle gültige lutherische Glaubensbekenntnis (die sog. Konkordienformel von 1577). Krell unterstützte die französischen Hugenotten unter Heinrich v. Navarra. Seinen Plan, eine Union aller evangelischen Reichsstände unter Einbeziehung der Calvinisten anderer Länder (z.B. Schweiz, England, Frankreich) zu schaffen, konnte er nicht mehr verwirklichen.
Als Kurfürst Christian I. 1591 starb, wurden die Sachsen unter der vormundschaftlichen Regierung Friedrich Wilhelms von Sachsen-Weimar (Kurfürst Christian II. war noch unmündig) wieder auf den lutherischen Glauben verpflichtet und alle Reformen rückgängig gemacht. Krell wird der Begünstigung des Calvinismus bezichtigt, 10 Jahre auf der Festung Königstein in Gewahrsam gehalten und am 9. Oktober 1601 auf dem Dresdner Neumarkt durch das Schwert hingerichtet. Ein mit „Kr.“ gekennzeichneter Stein im Pflaster zeigt noch heute die Stelle des grausamen Geschehens.